Argumente

Sorgenkind Zersiedlung: So geht’s nicht weiter

Im Sekundentakt wird in der Schweiz 1 m2 fruchtbares Land überbaut. Im behördenverbindlichen Richtplan des Kantons Thurgau ist seit 30 Jahren der Flächenausgleich verankert. Trotzdem hat in den letzten 30 Jahren die Landwirtschaftsfläche im Kanton Thurgau jährlich um 100 ha abgenommen, 2004 bis 2013 um jährlich 175 ha, 2014 gar um 290 ha. Zum Vergleich: Der auf 10 Jahre hochgerechnete Verlust von 2014  entspricht praktisch der Gesamtfläche von Fischingen, der flächengrössten Gemeinde im Thurgau.

Während Landwirtschaftsflächen, wertvolle Landschaften und  freie Natur unter Beton und Asphalt verschwinden, bleiben während Jahren ehemalige Industrie- und Gewerbebauten nutzlos stehen und behindern vielerorts die bauliche Erneuerung im Siedlungsgebiet. Zudem werden nach wie vor die maximalen Nutzungsziffern restriktiv ausgelegt. Neubauten für Wohnen, Gewerbe und Industrie können deshalb oft nicht optimal genutzt werden. Dies alles ist nicht nachhaltig.

"Ja zu einer intakten Thurgauer Kulturlandschaft" – eine Gesetzes- und eine Verfassungsinitiative

Die Thurgauer Landschaft ist in weiten Teilen noch intakt. Dass dies so bleibt, war das Ziel der beiden Initiativen "Ja zu einer intakten Thurgauer Kulturlandschaft".

Die Gesetzesinitiative konnte zurückgezogen werden, nachdem der Grosse Rat des Kantons Thurgau einem sehr guten Gegenvorschlag zugestimmt hatte – mit dem glänzenden Resultat von 91 Ja zu 26 Nein. Dieser Gegenvorschlag garantiert, dass das Siedlungsgebiet – so wie es mit der gegenwärtigen Richtplanrevision festgesetzt wird – bis Ende 2040 nicht vergrössert werden kann.

 

Die Verfassungsinitiative, die Grundsätze zum haushälterischen Umgang mit der Ressource Boden mit einem Eintrag in unsere Thurgauer Verfassung sichert, muss zwingend vors Volk, wie jede Verfassungsänderung. Genauer: Auch hier ist es ein Gegenvorschlag der vorberatenden Kommission, über den wir abstimmen, nachdem die ursprüngliche Initiative zurückgezogen wurde. Diesem Gegenvorschlag stimmte der Grosse Rat mit 110 zu 10 Stimmen zu! Er unterscheidet sich lediglich in einem Detail vom Initiativtext: Die Initiative verlangte die "Erhaltung und den Schutz des Nichtsiedlungsgebietes" – der Gegenvorschlag "die Erhaltung des Nichtsiedlungsgebietes", da der Schutz des Nichtsiedlungsgebietes sowie das, was dort baulich möglich ist, bereits bundesrechtlich geregelt ist.

 

Wir sagen Ja:

Grosser Rat des Kantons Thurgau 
110 Ja : 10 Nein

 

 

    

 

 

    

 

 

 

 

 

 

 

 

   

 

  

 

 

das Argumentarium hier als pdf-Datei downloaden:

Argumentarium.pdf

Der Gegenvorschlag zur Verfassungsinitiative

Am 12. Februar wird über folgende Änderung unserer Kantonsverfassung abgestimmt:

   
 

§ 77 Abs 1

1 Kanton und Gemeinden ordnen die zweckmässige und haushälterische Nutzung und Überbauung des Bodens.
 

2 Sie sorgen für die Erhaltung des Nichtsiedlungsgebietes.
 

3 Sie treffen Massnahmen für eine qualitativ hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen und zur Stärkung der Siedlungserneuerung.

4 Sie können Massnahmen zur Förderung des Wohnungsbaus treffen.

  Neu sind die kursiv -fett geschriebenen Textteile.

Erklärungen

Zu Absatz 1

Die Formulierung "zweckmässige und haushälterische Nutzung des Bodens" entspricht Artikel 75 unserer Bundesverfassung.

Zu Absatz 2

"Erhaltung des Nichtsiedlungsgebietes" heisst: Der Kanton und die Gemeinden sind dafür besorgt, dass das Nichtsiedlungsgebiet in seiner  gesamten Grösse erhalten bleibt. Absatz 2 verlangt also den quantitativen Schutz unserer Landschaft.

Das Nichtsiedlungsgebiet besteht einerseits aus der Waldfläche, die seit 1876 rigoros geschützt ist, und andererseits fast ausschliesslich aus der Landwirtschaftlichen Nutzfläche LN. Zur Hauptsache sind dies Flächen, die für eine intensive Produktion von Nahrungs- und Futtermitteln geeignet sind, zum Beispiel die guten Ackerböden (Fruchtfolgeflächen). Aber auch viele extensiv genutzte naturnahe Flächen wie Blumenwiesen, artenreiche Weiden, Hecken oder Streueflächen gehören zur LN. Auch die künftig auszuscheidenden Gewässerräume gemäss Gewässerschutzverordnung werden LN bleiben.

Absatz 2 betrifft ausschliesslich das Nichtsiedlungsgebiet. Das heisst, dass diese Verfassungsänderung keine Auswirkungen auf landwirtschaftlich genutzte Flächen im Siedlungsgebiet hat.

Zu Absatz 3

"Hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen": Unsere Siedlungen sollen klar erkennbare Siedlungsbegrenzungen haben und nicht mehr, wie so oft geschehen, ins landwirtschaftliche Umland "ausfransen".

Das Siedlungsgebiet ist so zu entwickeln, dass im Lauf der Jahre an den dafür geeigneten Lagen – zum Beispiel Dorf- und Stadtzentren, bahnhofsnahe Gebiete – kompakte Siedlungsstrukturen entstehen. Dabei sollen die zonengemässen Nutzungsziffern eines Areals möglichst ausgenutzt werden. Die Verfassungsänderung verlangt allerdings eine hochwertige Siedlungsentwicklung; das heisst, die angestrebte Ausschöpfung der zulässigen Nutzung darf nicht auf Kosten der Wohn- und Lebensqualität gehen. Es gibt gute Beispiele, dass eine massvoll dichtere Siedlungsform die Wohn- und Lebensqualität der (Quartier)bevölkerung steigert, denn in einem belebten Quartier entstehen Restaurants, Cafés, Läden, Spiel- und Sportplätze. Das Leben wird etwas "städtischer" – aber gerade unsere historischen Altstädtchen und Dorfkerne als Urform des verdichteten Bauens zeigen uns, wie attraktiv auch eine kompaktere Nutzung sein kann.

   

 

Wichtig ist aus Sicht der Gemeinden und der Steuerpflichtigen die Tatsache, dass kompaktere Siedlungen bezüglich Infrastrukturkosten wesentlich günstiger sind: Zersiedlung heisst auch immer Mehrkosten für Versorgung und Entsorgung, Winterdienst, Strassenbau und –unterhalt, Schulwegsicherung, Anbindung an ÖV-Netz.    

Wie viele m2 Bauzonenfläche werden pro Einwohner beansprucht?

    Thurgau     506 m2/Ew.

    CH                407 m2/Ew.  (Dienststelle f. Statistik TG)

Nur vier Bergkantone weisen mehr Bauzonenfläche pro Einwohner als der Thurgau aus:  FR, GR, VS und JU!

   

 

Sie treffen Massnahmen…:

Dieser Eintrag in unsere Verfassung gibt Kanton und Gemeinden die Möglichkeit, die gewünschte Siedlungsentwicklung zu unterstützen. Der Fächer der möglichen Massnahmen ist sehr breit; hier zur Konkretisierung nur eine unvollständige und unverbindliche Auflistung:

  • Änderung der kommunalen Baureglemente, die gemäss dem beschlossenen Gegenvorschlag zur Gesetzesinitiative (PBG § 18 Abs 1) wie folgt ergänzt werden können: Bestimmungen über eine Mindestausnützung.  Dies erlaubt es den Gemeinden, eine zonengemässe Ausnützung (z.B. W4…) zu verlangen und Bauvorhaben, die diese Ausnützung unterschreiten, zurückzuweisen.
  • Aufzonungen und Umzonungen
  • Förderbeiträge für Ersatzneubauten. Im Förderprogramm TG  wird ein Ersatzneubau, sofern er Minergie-Standards erreicht, bereits zusätzlich unterstützt: Ersatzneubauten erhalten einen Zusatzbeitrag, wenn der Altbau bis auf die Grundmauern abgebrochen wird. (Förderprogramm TG 2016, S 12)
  • Erarbeiten von gemeinsamen Zielen und Leitbildern im Dialog mit der Bevölkerung
  • Massnahmen zur Baulandmobilisierung
  • Steigerung der Wohn- und Lebensqualität durch Grünflächen, Begegnungszonen
  • Förderung von ÖV und Langsamverkehr
   

Siedlungserneuerung:

Bestehende Wohnquartiere können aufgewertet, Industrie- und Siedlungsbrachen und leerstehende Scheunen in der Bauzone können umgenutzt werden. Das Entwicklungspotenzial von Brachen und nicht oder kaum genutzten Gebäuden im Siedlungsgebiet ist sehr gross. Unzählige Altbauten entsprechen nicht mehr der zonengemässen Nutzung – und sind zudem in der Regel wahre Energiefresser. Ersatzneubauten nutzen die zur Verfügung stehende Fläche x-mal besser aus und können die besten Energiestandards erreichen, was bei einem Altbau unmöglich ist. "Qualitativ hochwertig" heisst allerdings, dass ortsbildprägende Ensembles, denkmalgeschützte Häuser und geschützte Naturobjekte im Siedlungsraum respektiert werden!

 

Siedlungserneuerung:
Dieses Wohnhaus in Romanshorn
hatte vor dem Umbau eine
Nutzfläche von 1500 m2;
heute 2360 m2. Es produziert
nun mehr Energie als es selber
verbraucht.

 

Warum eine Verfassungsänderung?

Genügt nicht die Ergänzung des Planungs- und Baugesetzes, die die Gesamtausdehnung des Siedlungsgebietes bis 2040 festsetzt?

Nein.

Das Ziel dieser Verfassungsänderung – Stopp der Zersiedlung; Erhalt unserer Thurgauer Kulturlandschaft – ist in der Bevölkerung, sowie bei Parteien und Verbänden weitgehend unbestritten. Hier, in der Thurgauer Verfassung geht es um den Grundsatz, wie wir künftig mit der (nicht erneuerbaren!) Ressource Boden umgehen wollen. Mit der Verfassungsänderung  ist dieser Grundsatz "in Stein gemeisselt" und kann in keiner politischen Diskussion umgestossen werden; nur der Souverän, die Thurgauer Stimmbürger und Stimmbürgerinnen könnten einen Verfassungsartikel wieder ändern.

 

§ 77 der Verfassung wird damit zu einem klaren Bekenntnis, dass wir Thurgauerinnen und Thurgauer unserer Landschaft und Natur und den Böden für unsere Landwirtschaft Sorge tragen wollen. Dies bedingt eine Siedlungsentwicklung nach innen, die aber mit Augenmass und hoher Qualität erfolgen soll. Auch der Grundsatz der hochwertigen Siedlungsentwicklung, der eine hohe Wohn- und Lebensqualität zum Ziel hat, sowie die angestrebte Siedlungserneuerung sind aus unserer Sicht verfassungswürdig. Sie stellen für sich allein schon einen hohen Wert dar; sie sind zudem ein zentrales Element einer kulturlandschonenden Raumplanung.
   

Ziele der Verfassungsänderung

Unsere Bäuerinnen und Bauern sind im Nichtbaugebiet die mit Abstand wichtigsten Akteure. Hochstamm-Baumgärten, Äcker, Hecken, Kuhherden, Blumenwiesen, Weinberge, Streusiedlungen, Gemüsekulturen, Tafelobstanlagen, Ackerterrassen…; die landwirtschaftliche Nutzung prägt den Charakter unserer Landschaft.   "Landwirtschaft verliert an Boden", fasst das Statistische Jahrbuch TG 2016 die Tatsache zusammen, dass es  "in den letzten zehn Jahren es im Durchschnitt rund 160 Hektaren pro Jahr" waren,  die wir an Landwirtschaftlicher Nutzfläche verloren. Besondere Beachtung ist dem Erhalt der Fruchtfolgeflächen FFF zu schenken. Es sind dies die besten Ackerböden, und der Landwirtschaftskanton Thurgau erfüllt gerade noch das vom Bund geforderte Kontingent von 30'000 Hektaren. Sichern wir das landwirtschaftliche Kulturland – andernfalls sägen wir am Ast, auf dem wir alle sitzen.

 

 

 

Lebensraum für einheimische Tiere und Pflanzen bewahren

Landwirtschaft darf nicht ausschliesslich mit produzierender Landwirtschaft gleichgesetzt werden. Gemäss Art. 104 der Bundesverfassung hat die Landwirtschaft auch den Auftrag, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten und die Kulturlandschaft zu pflegen.

Naturschutzgebiete, extensive Wiesen und Weiden, Streueflächen, Vernetzungsgebiete, die die Wanderung der Arten und damit den Gen-Austausch ermöglichen, Waldreservate, Auenwälder…, sie alle haben zum Ziel, die Biodiversität zu erhalten und zu stärken.

Und die Biodiversität – die Vielfalt und das Zusammenspiel aller einheimischen Pflanzen und Tiere – ist kein "Nice to have", sondern die unverzichtbare Grundlage für unser Leben.

 

 

Landschaft als Grundlage für einen attraktiven Wohnkanton und sanften Tourismus schützen

"Die schöne Landschaft als Beweggrund für einen Besuch: Die Gäste des Thurgaus sind vor allem Naturliebhaber. Nun passt Thurgau Tourismus seine Strategie entsprechend an." 
(Thurgauer Zeitung, 19. Oktober 2016)

Die Tourismusfachleute reagieren nach einer repräsentativen Umfrage auf das Kundenbedürfnis. "Hauptsächlich wegen der intakten Natur, dem schönen Landschaftsbild und zur Erholung hätten sie  (die Gäste) den Thurgau als Reiseziel ausgesucht", fasst Tourismus Thurgau die Resultate zusammen.

Zu den wichtigsten Standortvorteilen für unseren Wohn- , Wirtschafts- und Tourismuskanton gehört unsere relativ intakte Landschaft. Sie ermöglicht Erholung, Naturerlebnisse, Sport – und eine hohe Lebensqualität.

 
 

 

Arbeit schaffen – mit der Siedlungsentwicklung und Siedlungserneuerung

Eine qualitativ hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen, sowie die Stärkung der Siedlungserneuerung, wie dies der Gegenvorschlag zur Verfassungsinitiative vorsieht, behindert das Baugewerbe in keiner Weise. Im Gegenteil: Die Nutzung von Industrie- und Gewerbebrachen, der Ersatz von wenig genutzten Liegenschaften durch Neubauten, die die zonengemässe Ausnutzung ermöglichen, Auf- und Umzonungen, die Projektierung und (etappenweise) Realisierung von Kernzonen oder Bahnhofarealen zu Zentren mit hoher Lebensqualität, die Mobilisierung von Bauland  – all dies schafft Arbeit für das Bau- und Baunebengewerbe.

Und es wird noch lange nicht eng in unseren Siedlungen: Gemäss dem Abschlussbericht Raum+ Thurgau (ETH Zürich 2015) beträgt die Bauzonenreserve 1298 Hektaren (!), wovon 444 ha Wohnzone, 396 ha Mischzone, 336 ha Arbeitszone.

Provokative Kurzfassung: Für die Entwicklung unserer Siedlungen werden wir künftig weniger Boden und mehr Fachwissen brauchen (Architekten, Bauingenieure, Planer, Fachleute in Bauverwaltungen).

Positiver Nebeneffekt: Die zu ersetzenden Altbauten sind in der Regel ungenügend isoliert und brauchen sehr viel Energie. Ersatzneubauten leisten einen wertvollen Beitrag zur Energiebilanz. Dank moderner Haustechnik und Isolation brauchen sie sehr wenig Energie. (Oder sie produzieren gar mehr Energie als sie brauchen – siehe Beispiel Romanshorn.)

 

 

 

 

 

Sorgen wir für Siedlungen mit hoher Lebens- und Wohnqualität

Mit unserem Ja am 12. Februar zur Verfassungsänderung setzen wir nicht nur ein Zeichen für den Erhalt unserer Kulturlandschaft. Wir setzen auch ein Zeichen, wie sich unsere Siedlungen künftig entwickeln sollen: Nach innen – aber mit hoher Lebens- und Wohnqualität!

Der geänderte § 77 der Verfassung ist die Grundlage dafür. Er ermöglicht es dem Kanton und den Gemeinden, Massnahmen zu treffen, um eine positive Entwicklung unserer Siedlungen zu fördern.

 
       

Hier finden Sie die Seite der ursprünglichen Initiativen